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„Man muss für die Pressefreiheit kämpfen“

in Inland Hu 18.09.2020 18:27
von Peterbacsi • Admin | 3.590 Beiträge

Interview Szabolcs Dull musste als Chefredakteur gehen, weil er der ungarischen Regierung offensichtlich lästig war. Jetzt bekam er in Potsdam wegen seines Einsatzes für eine freie, unabhängige Berichterstattung den „M100 Media Award“. Für wie gefährlich er das System Orbán hält


Herr Dull, haben Sie Angst vor dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán?

Szabolcs Dull: Nein, ich habe keine Angst vor ihm.

Ist er in Ihren Augen ein Diktator? So wird er ja von Kritikern bezeichnet …

Dull: Ich denke nicht. Und ich möchte Politiker auch nicht derart qualifizieren, das ist nicht meine Aufgabe als Journalist. Ich denke auch nicht parteipolitisch, wenn ich Situationen bewerte. Da geht es um rein journalistische Werte.

Sie waren Chefredakteur des reichweitenstärksten unabhängigen Nachrichtenportals Ungarns, „Index.hu“. Im Juli wurden Sie entlassen. Was war die offizielle Begründung?

Dull: In meinem Entlassungsschreiben stand „Vertrauensverlust“.

Warum wurden Sie wirklich entlassen?

Dull: Ich hatte einen Monat zuvor öffentlich gemacht, dass ich das Gefühl habe, die gesamte Redaktion schwebe in Gefahr, ihre Unabhängigkeit zu verlieren. Mir war zu Ohren gekommen, dass sie neu strukturiert und von außen Einfluss auf sie genommen werden sollte. Was Viktor Orbán betrifft, muss ich ehrlich sagen: Ich weiß nicht genau, welche Rolle er dabei spielte. Ich bin lästig geworden, vor allem, weil ich klargemacht habe: Bei der Pressefreiheit kann es keine Kompromisse geben.
Bild entfernt (keine Rechte)
Mit welchen Mitteln wurde auf Sie und Ihre Redaktion Druck ausgeübt?

Dull: Das begann schon damit, dass sich plötzlich jemand, der der Regierung nahesteht, in unsere Partnerfirma einkaufte, die für das Werbegeschäft zuständig ist.

Hat Orbán versucht, direkt Einfluss auf Sie und Ihre Arbeit zu nehmen?

Dull: Es war kein direkter Druck. Aber seine Regierung pflegte einen sehr feindlichen Umgang mit uns. Man gab uns keine Interviews, man beantwortete unsere Fragen nicht.

Gegen Sie selbst wurde eine Diffamierungskampagne gestartet.

Dull: Gleich am Tag nach meiner Entlassung hat ein regierungsnahes Medium versucht, mich zu verleumden. Es wurde behauptet, ich hätte das Ende von Index zusammen mit der Opposition herbeiführen wollen. Das ist absoluter Nonsens!

Wurden Sie bedroht? Wurden Sie Opfer körperlicher Gewalt?

Dull: Zum Glück ist es in Ungarn noch nicht so weit. Aber es gibt eine Tendenz dahin. Jemand verschaffte sich Zugriff auf meine Anrufliste. Und einmal klingelte jemand an meiner Wohnungstür. Er hatte eine eingeschaltete Kamera bei sich. Ich hatte das Gefühl, ich solle zur Rechenschaft gezogen werden.

Nach Ihrer Entlassung demonstrierten tausende Menschen in Budapest. Aber würden Sie sagen, es gibt einen anhaltenden, breiten Widerstand gegen die Einschränkungen der Pressefreiheit?

Dull: Nein, den gibt es nicht – was es gab, das waren Demonstrationen und Solidaritätsbekundungen, wenn Redaktionen in Gefahr waren oder geschlossen wurden.

Woran liegt das?

Dull: Das liegt auch daran, dass bei vielen Zeitungen regierungsnahe Propagandisten in die Redaktionen gesetzt wurden. Mittlerweile setzt man sogar Politiker in sie. Ich denke aber, es wird vielen Menschen in Ungarn immer bewusster, dass die freie Berichterstattung einen Wert hat. Bei den Kommunalwahlen 2019 gab es einen Skandal, über den nur unabhängige Medien berichtet haben. Von einem Parteifreund Orbáns, Zsolt Borkai, kursierte ein Sexvideo von einer Luxusjacht auf der Adria. Er trat dann später als Bürgermeister von Györ zurück.

Warum ist die Unterstützung der Bevölkerung für Orbán derart groß?

Dull: In der Tat hat er bei Parlamentswahlen drei Mal eine Zweidrittelmehrheit geholt. Er hat das vor allem dadurch geschafft, weil er Maßnahmen umsetzte, die die finanzielle Situation vieler Ungarn verbessert haben. Und weil die Opposition nicht imstande war, einheitlich aufzutreten – so, dass die Menschen, die Orbán nicht unterstützen, wirklich eine Alternative gehabt hätten.

Wohin will Orbán sein Land führen?

Dull: Wir wissen, dass er sich schon auf die Parlamentswahlen 2022 vorbereitet. Orbán sagte, er wolle bis 2030 regieren und bis dahin das ganze System umgestalten.

In Deutschland wird auf Demonstrationen – etwa von Gegnern der Anti-Corona-Maßnahmen – „Lügenpresse“ skandiert. Oder es wird gefordert: „Stoppt die Merkel-Diktatur!“ Was denken Sie, wenn Sie so etwas hören?

Dull: Die Situation in Ungarn und in Deutschland ist natürlich nicht vergleichbar. In einer Krise wie der Corona-Krise ist es nicht überraschend, dass es Zweifler gibt. Es wird sie immer geben. Gerade deshalb brauchen wir ja glaubwürdige Medien, die recherchieren und den Menschen aufzeigen, warum dieses Problem ernst genommen werden muss. Die Corona-Krise zeigt sehr gut, warum wir freie und unabhängige Medien brauchen.

Der Nichtregierungsorganisation „Reporter ohne Grenzen“ zufolge haben Orbán, seine Fidesz-Partei und befreundete Unternehmer die Medienlandschaft Ungarns weitgehend unter ihre Kontrolle gebracht.

Dull: Es gibt noch Spielraum, und es gibt ein neues Projekt meiner ehemaligen Kollegen.

Nach Ihrer Entlassung kündigten fast 100 von ihnen – aus Solidarität.

Dull: Als ich mich verabschiedet habe, habe ich meine Kollegen gebeten: Bleibt nicht still! Ich drücke ihnen die Daumen und hoffe, dass sie ein großes neues Medium im Internet aufbauen können.

Sind Sie an diesem Projekt beteiligt?

Dull: Noch bin ich vertraglich an Index gebunden, bis Februar 2021. Ich weiß, dass mich meine ehemaligen Kollegen danach willkommen heißen werden.

Sie sehen also Ihre Zukunft in Ungarn als Journalist – trotz allem.

Dull: Seit meiner Kindheit wollte ich Menschen informieren. Das ist sehr wichtig, auch wenn einem Steine in den Weg gelegt werden. Es geht um die Demokratie. Man darf auf keinen Fall aufgeben. Man muss für die Pressefreiheit kämpfen. Ich meine das sehr ernst, wenn ich sage, dass man nicht verstummen dürfe. Interview:
Daniel Wirsching


Liebe Grüße
Peter
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