Ein auf den ersten Blick schlichtes Beispiel lieferte diese Woche das Zentralorgan der einfachen Sprache, nämlich die Bild-Zeitung. Diese versuchte, mit aus dem Zusammenhang geklaubten Zitaten anderer Wissenschaftler (die sich davon denn auch öffentlich distanzierten) die Studie des Virologen Christian Drosten zur potenziellen Ansteckungsgefahr von Kindern in dicken Lettern zu zerschießen: „Schulen und Kitas wegen falscher Corona-Studie dicht“. Die Zeile ist natürlich in mehrfacher Hinsicht falsch, schließlich wurden die Einrichtungen etwa schon Wochen vorher geschlossen, vor allem aber: In dem Text schoben sie Deutschlands derzeit wohl bekanntestem Seuchen-aufklärer (O-Ton: „Star-Virologe“) auch noch ein falsches Zitat unter, indem sie einfach den einschränkenden Konjunktiv wegließen: „Children may be as infectious as adults“, so heißt es im Orginal, also: Kinder könnten so infektiös sein wie Erwachsene. Bei Bild wurde daraus ein können. Ein Übersetzungsfehler? Zu viel im Tee?
Nein, diese Männer sind nicht betrunken und die Sache reicht tiefer, denn natürlich ist man dort des Englischen mächtig. Bei dem Versuch, Drosten zu demontieren (er hatte eine Stunde Zeit, um Stellung zu nehmen, danach ging die Story sofort online), ging es vielmehr darum, vom Ärger vieler gestresster Eltern über die Beschränkungen bei Schule und Kinderbetreuung, ja, vom zunehmenden allgemeinen Missmut gegen die Corona-Politik zu profitieren, Klicks zu generieren, schlicht: Geld zu verdienen.
Das ist – im Gegensatz zu den genannten fragwürdigen Methoden – nicht verwerflich (schließlich wollen oder müssen wir das alle, also Geld verdienen), es wirft allerdings ein erstes Schlaglicht auf die unterschiedlichen Systemlogiken, denen wir unterworfen sind – und die auch jeweils unterschiedliche „Sprachen“ hervorbringen. Denn natürlich funktioniert und kommuniziert das System Wissenschaft anders als etwa das der Medien. Die Studie war beispielsweise ein sogenannter Preprint und ausdrücklich und im Sinne der sonst üblichen Begutachtung für kritische Anmerkungen und Überprüfungen offen. So arbeitet die wissenschaftliche Community, mögen sich wiederum Medien und deren Leser und Nutzer eher an Eindeutigkeit orientieren. Eine Überschrift im Konjunktiv funktioniert in der Regel eben nicht gut, vom Abdruck einer hundertseitigen Studie voller Fachbegriffe ganz zu schweigen. Beides hat aber seine Berechtigung, ja, ist sogar notwendig für moderne Gesellschaften, die erst durch diese Ausdifferenzierung so leistungsfähig sind: Die Wissenschaft kümmert sich um Erkenntnisse, die Politik um Mehrheiten für Entscheidungen, die Medien um Information und Öffentlichkeit und so weiter…
In gewöhnlichen Zeiten wird davon kaum Notiz genommen, auch wenn diese höchst effiziente Arbeitsteilung selbst dann schon das erfordert, was der Soziologe Armin Nassehi „Übersetzungsleistung“ nennt (etwa zwischen den Interessen und der internen Logik der Wirtschaft und den Belangen des Klimaschutzes). In den vergangenen Wochen des Ausnahmezustands aber traten diese je unterschiedlichen internen Systemlogiken ganz offen zutage – allein schon, weil der Erwartungs- und Handlungsdruck an Politik und Wissenschaft ein immenser war und ist und plötzlich virologische Erkenntnisse, die jeweils nur vorläufige sein konnten, Topthema in der Tagesschau sind. Was im Übrigen auch beteiligte Akteure wie ebenjenen ansonsten abwägenden Christian Drosten zunehmend überfordert, der sich ja nicht ganz unfreiwillig in exponierter Weise in die Öffentlichkeit begeben hat und sich nun mit den Gesetzmäßigkeiten der Mediengesellschaft konfrontiert sieht. Überfordert hat das aber vor allem die Gesellschaft selbst, die teils im Stundentakt mit neuen, sich bisweilen widersprechenden Informationen und/oder politischen Entscheidungen zu tun hatte.
Ganz besonders ersichtlich wurde das zuletzt, in Zeiten wieder zunehmender Normalität, als auch der Politikbetrieb also wieder in seinen Normalmodus überging – und damit in den parteipolitischen und auch persönlichen Wettbewerb. Dieser ist systemimmanent und überlebensnotwendig für eine Demokratie, auf dem Weg aus dem Lockdown wurde dabei aber ein nicht gerade konsistent anmutender Mix an Lockerungen hier und Auflagen da, man könnte auch sagen: ein Durcheinander. Auch deshalb bleibt bei vielen eher der Eindruck von Kakofonie und auch Verwirrung, was gleichzeitig und rückwirkend auch die getroffenen, teils drastischen Einschränkungen für manchen fragwürdig erscheinen lässt. Das Gegenteil davon wäre aber erst recht ein Ausnahmezustand: Denn Eindeutigkeit ist beim gegenwärtigen Wissensstand nur um den Preis der Verharmlosung, wenn nicht gar Lüge zu haben, wie man mit Blick auf Verschwörungstheorien oder autoritäre Politikertypen wie Bolsonaro, Putin oder Trump deutlich sehen kann.
Kann man also überhaupt verstehen? Können wir uns überhaupt verstehen? Zuletzt wurde, auch von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn gegenüber dieser Zeitung, viel von einer drohenden Spaltung der Gesellschaft gesprochen. Doch im beschriebenen, übertragenen Sinn war sie das schon immer – was sich in Krisen nur deutlicher zeigt und, ja, auch zunehmend und buchstäblich Unverständnis erzeugt. Aus diesem heraus wächst im schlechtesten Fall aber Angst und Wut, und aus Angst und Wut folgt wiederum oft eine auf der Straße herausgebrüllte oder in „sozialen“ Medien geteilte Verrohung der Debattenkultur und Irrationalisierung des Diskurses. Wenn für Journalisten etwa Berufsverbot gefordert wird (ausgerechnet mit Verweis auf die Grundrechte), wenn Wissenschaftler und Politiker bedroht werden, so ist das mindestens befremdlich.
Dabei bräuchten wir doch genau das Gegenteil mehr denn je: eine unbedingt kritische, aber doch vernünftige Diskussion über die Herausforderungen, die sich da gerade erst abzuzeichnen beginnen. Getragen von Respekt und dem Verständnis für den jeweils anderen, dessen Interessen – und auch dafür, wie Gesellschaft funktioniert. Das wäre nun zwar kein „Pfingstwunder“, aber doch schon ziemlich viel.
von christian imminger