Polen und Ungarn wollen nicht akzeptieren, dass EU-Zahlungen an Rechtsstaatsgarantien gekoppelt werden, und blockieren jetzt den 750 Millionen Euro schweren Corona-Hilfsfonds und den EU-Haushalt. Können Sie sich vorstellen, dass das EU-Parlament den beschlossenen Rechtsstaatsmechanismus noch einmal überarbeitet?
Katarina Barley: Nein, das halte ich für völlig ausgeschlossen. Wir haben bereits viel Kompromissbereitschaft gezeigt. Zum Beispiel wurde vereinbart, nur solche Rechtsstaatsverstöße zu ahnden, die sich auf das EU-Budget auswirken. Der Rechtstext steht und wird nicht mehr angefasst.
Man könnte noch einen Anhang basteln, eine Protokollerklärung hinzufügen.
Barley: Das ist eine Möglichkeit. Aber dies darf nicht zu einer Abschwächung des Texts führen. Allen Beteiligten sollte klar sein, dass viele Mitgliedstaaten Polen und Ungarn keine weiteren Zugeständnisse mehr machen wollen. Ich nenne hier nur die Niederlande oder die skandinavischen Länder, die überhaupt nicht bereit sind, Warschau und Budapest noch irgendwelche Ausnahmen zuzugestehen.
Dann bleibt nur noch der Weg, diese Widerständler auszugrenzen, damit der Aufbaufonds kommen kann?
Barley: Das würde nicht so einfach, wie es klingt. Es gibt die Überlegung, den Aufbaufonds als Vereinbarung zwischen den verbleibenden 25 Staaten zu konstruieren – nach dem Vorbild des ESM-Rettungsfonds in der Finanzkrise. Das Problem ist nur, dass sich die Coronavirus-Hilfskasse durch neue Eigenmittel wie eine Plastik- oder eine Digitalsteuer refinanzieren soll, damit die europäischen Steuerzahler nicht zur Kasse gebeten werden müssen. Den Aufbaufonds könnte man gegen Ungarn und Polen beschließen, die Eigenfinanzierung braucht aber Einstimmigkeit.
Wo sehen Sie denn Spielraum für einen Kompromiss?
Barley: Man sollte sich die Lage in Polen und Ungarn genau ansehen. Erst diese Woche hat eine Umfrage ergeben, dass 70 Prozent der Menschen dort eine Bindung von EU-Geldern an Rechtsstaatlichkeit befürworten. In Polen hat ein neues, strenges Abtreibungsverbot zu heftigem Widerstand geführt, nachdem das dortige Verfassungsgericht ein entsprechendes Urteil gefällt hatte. Die Menschen erleben plötzlich, dass der Streit um Rechtsstaatlichkeit keine demokratische Theorie ist, sondern dass es um ganz konkrete Auswirkungen für ihr Leben geht. Da gibt es also massiven Druck auf die Regierung und die Verfassungsinstitutionen. In Ungarn ist die Korruption des Orbán-Clans ein offenes Geheimnis. Auch da wird den Menschen immer klarer, wie isoliert ihr Land in Europa ist. Und dass die EU sich solche Verstöße gegen demokratische Grundwerte nicht mehr gefallen lassen will. Mit anderen Worten: Ich schließe nicht aus, dass sich beide Regierungen vielleicht doch noch bewegen.
Wie auch immer die EU sich entscheidet – am Ende könnten die Regierungen Polens und Ungarns vor dem Europäischen Gerichtshof klagen. Also auf die Richter bauen, deren Urteile sie bisher mit Füßen treten …
Barley: Das stimmt. Aber genau darauf setzen wir. Warschau und Budapest argumentieren, Rechtsstaatlichkeit sei in der Union bisher nicht definiert und sie dürften dieses Prinzip deshalb selbst und für sich auslegen, weil das zu den Freiheiten jedes Mitgliedstaats gehöre. Das ist natürlich Unsinn. Was rechtsstaatlich ist, definiert der EuGH. Und der hat längst klargestellt, dass die Unabhängigkeit des Justizwesens ein Grundwert ist, der nicht zur Diskussion stehen darf, und dass Polen dagegen verstößt.
Wie kann die EU damit leben, dass sie ständig von zwei Mitgliedern attackiert und bekämpft wird?
Barley: Es ist an der Zeit, dass sich sowohl die Europäische Kommission wie auch der Europäische Rat eingestehen, viel zu lange zugesehen zu haben. Das rächt sich jetzt.
Ist das auch ein Appell an die europäischen Christdemokraten, die ungarische Regierungspartei Fidesz endlich aus ihren Reihen zu entfernen?
Barley: Dieser Schritt ist überfällig. Die Europäische Volkspartei verweist zwar stets auf ähnliche Kräfte in anderen Parteienfamilien, aber das ist heuchlerisch. Es stimmt zwar, dass es Rechtsstaatsdefizite in allen EU-Staaten gibt. Aber das ist ja kein Argument, nichts zu tun, sondern das zu tun, was jede Partei tun sollte. Überdies sind Polen und Ungarn die einzigen Länder, die die Europäische Union zu einer „illiberalen“ Gemeinschaft machen wollen.
Ein weiteres Thema bremst die EU derzeit noch aus: die Brexit-Verhandlungen mit Großbritannien. Rechnen Sie noch mit einem Deal?
Barley: Die Prognose ändert sich wirklich jeden Tag. Aber ja, im Moment bin ich verhalten optimistisch, weil man inzwischen wenigstens an einem Text arbeitet, also eine Vorlage hat. Das ist über Monate hinweg nicht passiert. Ich weiß nur nicht, ob die Zeit noch reicht.
Halten Sie es für denkbar, dass man mit Tricks die Verhandlungen noch über den 1. Januar 2021 ausdehnt?
Barley: Die Frist zur Verlängerung der Übergangsphase ist im Sommer abgelaufen. Zudem hat Premierminister Boris Johnson dies immer so kategorisch ausgeschlossen, dass es schwerfällt, sich eine solche Variante vorzustellen. Ich würde eine Fortsetzung der Gespräche über dieses Datum hinaus für vernünftig halten, wenn das Abkommen dafür besser wird. Aber da müssen wir erst mal eine rechtliche Konstruktion finden, um einen vorübergehenden No-Deal zu vermeiden, und Johnson müsste sich weiter an alle EU-Regeln halten. Aber wer weiß? Man hat sich schon oft über Johnsons plötzliche und überraschende Wenden gewundert. Jetzt wäre so etwas willkommen. Interview: Detlef Drewes