Unser Korrespondent in Brüssel schreibt
Lieber Peter,
es hätte eine langweiligere Premiere sein können: Ich habe sechs Jahre lang als Korrespondent in London gearbeitet, bin aber im August nach Brüssel gezogen. Gestern und heute fand nun das erste Gipfeltreffen statt, das ich als EU-Korrespondent begleitete. Dieser Gipfel brachte prompt das ewige Brexit-Drama zu einem vorläufigen Ende. Oder doch nicht? Ob der britische Premier Boris Johnson am Samstag im Parlament wirklich eine Mehrheit für das Abkommen finden kann, ist unklar. Wenn nicht, droht eine weitere Verlängerung; nach dem verkorksten Serienfinale gäbe es eine neue Staffel dieser Tragödie, die längst keiner mehr sehen will. Oder es käme in zwei Wochen zu einem Chaos-Austritt ohne geltenden Vertrag.
Bei seiner Pressekonferenz am Donnerstagabend gab sich Johnson gewohnt unbeleckt von Zweifeln. Die Staats- und Regierungschefs treffen sich in Brüssel immer im Ratsgebäude, einem - vor allem für Neulinge wie mich – ziemlich unübersichtlichen Komplex. Machen die Spitzenpolitiker mal Pause vom Verhandeln und Kompromisseschmieden, reden sie ab und an mit der versammelten Internationale des Journalismus. Jedes Land hat seinen eigenen Raum für solche Konferenzen. Der Weg von den Schreibtischen im Pressezentrum zum britischen Saal führt vorbei an der Journalistenbar und den Toiletten, dann geht es irgendwie rechts zu den Aufzügen, dann hoch und dann immer dem Trubel nach.
Saal 20.5 ist übervoll. Johnson geht beschwingt zum Podium, die Auslöser der Kameras klackern, er lächelt und verbreitet geballte Zuversicht: Ein großartiger Deal, er werde die Wunden im Land heilen und die Unterstützung des Parlaments finden. Viele Fragen kann er nicht beantworten, denn er trifft sich noch mit den anderen Staats- und Regierungschefs: „Nun muss ich zum Abendessen“, sagt er entschuldigend. Und ist kurz darauf weg.
In Saal 20.4, in der Nähe des Raums der Briten, stellt sich Bundeskanzlerin Angela Merkel kurz vor Johnson der Presse. Auch sie gibt sich zuversichtlich, sagt aber zugleich, alle hätten „natürlich im Herzen, dass es kein freudiger Tag ist“. Schließlich verlässt ein Mitgliedstaat die EU.
Ich habe in diesem Mitgliedstaat sechs Jahre gelebt und gearbeitet, beides mit großer Freude. Die letzten drei dieser sechs Jahre habe ich sehr, sehr viel über den EU-Austritt geschrieben - über den Backstop, die Zollunion und anderes buntes Brexit-Allerlei. Jetzt bin ich in Brüssel und werde weiter viel über den Brexit schreiben, doch zum Glück auch über vieles andere.
Dass uns der Brexit als Thema erhalten bleibt, liegt schlicht daran, dass die eigentlich wichtigen Verhandlungen noch gar nicht begonnen haben. London und Brüssel haben sich bloß auf ein Scheidungsabkommen geeinigt, und wenn Johnson Glück hat, segnet das Parlament es ab. Dieses Abkommen regelt aber lediglich die Bedingungen der Trennung und stellt sicher, dass es auf der irischen Insel keine Zollkontrollen gibt. Es legt nicht fest, wie die Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU langfristig aussehen sollen. Gespräche darüber beginnen erst nach dem Austritt - in der vereinbarten Übergangsphase, in der sich für Bürger und Firmen fast nichts ändern soll.
London und Brüssel wollen einen Freihandelsvertrag abschließen, damit keine Zölle eingeführt werden. Beide Seiten möchten auch vermeiden, dass die Ladung von Lastwägen an den Häfen kontrolliert werden muss, denn sonst drohen Staus in Dover – Europas belebtestem Fährhafen – und Calais. Johnson will aber keine Zollunion mit der EU eingehen; er möchte Freihandelsverträge mit Wirtschaftsmächten wie China und den USA abschließen und Zölle senken. Gelten in Dover und Calais unterschiedliche Zollregime, würde es jedoch schwer, Spediteure vor Bürokratie und Kontrollen an den Häfen zu bewahren.
Beim Schutz vor Verbrechern und Terroristen wollen London und Brüssel ebenfalls zusammenarbeiten. Und EU-Schiffe sollen weiter in britischen Gewässern fischen dürfen. Für all das sind Verhandlungen und Verträge nötig. In diesen Verhandlungen werden die Briten oft vor dem Dilemma stehen, dass sie neue Bürokratie für ihre Unternehmen nur abwenden können, wenn sie sich eng an Brüsseler Regeln orientieren: Regeln, auf die London nach dem Brexit keinen Einfluss mehr hat. Mehr Freiheit bedeutet hingegen mehr Ärger. Dieses Dilemma – die Frage nach dem akzeptablen Preis der Freiheit, die Frage nach dem Platz des Landes in der Welt – wird Gesellschaft und Politik weiter spalten. Entsprechend mühsam und unberechenbar könnten die Gespräche mit Brüssel werden. Das Gewürge der vergangenen drei Jahre war nur das Vorspiel.
Lassen Sie sich von dieser Aussicht nicht das Wochenende verderben.
Ihr Björn Finke,
Korrespondent in Brüssel