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#1

Lesen im Lockdown

in schon gehört....? 06.11.2020 17:38
von Frosch • szabályos/Stammgast | 73 Beiträge

Empfehlungen Wenn sonst schon das Kulturangebot wieder heruntergefahren wurde und auch keine Gastronomie abends lockt: Hier sind aktuelle Bücher, die es als Gewinn erscheinen lassen können, dass jetzt mehr Zeit für sie ist


Was war noch mal der Unterschied zwischen dem Lockdown im Frühjahr und dem jetzigen? Neben manch anderem ließe sich anführen: Diesmal bleiben die Buchhandlungen geöffnet. Die verordnete Ruhe kann also Gelegenheit zur Lesezeit bedeuten. Was sich lohnt? Hier, in Genres, je nach Genre und Geschmack, einige Vorschläge.

Erzählungen

Ein Mann trifft zufällig eine frühere Liebe. Man geht spazieren, redet, küsst sich auch. Das wars. Ein anderer sitzt in der Fähre von Wales nach Irland zum Scheidungstermin, drei Amerikanerinnen flirten ihn an, er lässt sich auf nichts ein. Der Nächste, seit einem Jahr verwitwet, mietet ein Haus in Maine, sinniert dort über seine Ehe: „Insgesamt hatten sie sich ein Leben in Geborgenheit aufgebaut. Was gab es sonst?“ Nein, es passiert nicht viel im Erzählband Irische Passagiere (übs. Frank Heibert, Hanser, 288 S., 22 ¤) von Richard Ford . Mittelalte Anwälte, Ingenieure, Lehrerinnen denken über ihr Leben nach, über die Liebe, übers Glück, und über wohl falsche Abzweigungen, die sie genommen haben. Ford, einer der wichtigsten US-Gegenwartsautoren, skizziert mit feinem Strich und atmosphärisch dicht den Moment des Innehaltens, der Erkenntnis. In dem man auf die Risse blickt, dem eingeruckelten Leben vielleicht noch einmal eine andere Richtung geben könnte. „Gute Entscheidungen ergeben nicht immer gute Geschichten“, lässt er eine der Figuren sagen. Wenn man sie dann aber so beiläufig elegant und intensiv erzählen kann wie Ford, sind sie es natürlich doch!

Schmöker

Das Buch des Lebens? Das einen wie kein anderes prägt? Beim Waisenmädchen Polly Flint ist es „Robinson Crusoe“ von Daniel Defoe. Das Schicksal des Helden erinnert sie an ihr eigenes. Auch Polly ist gestrandet, im Haus ihrer Tanten inmitten der englischen Marsch, von Robinson Crusoe lernt sie, wie es sich in der Abgeschiedenheit überleben lässt. „Er ist so, wie Frauen fast immer sein müssen: auf einer Insel. Festgesetzt. Eingesperrt.“ Jane Gardam , die Grande Dame der englischen Literatur, erzählt in Robinsons Tochter (übs. Isabel Bogdan, 320 S., 24 ¤) wenn auch mit einer gewissen Überstrapazierung der Grundidee von nichts weniger als der Rettung durch Literatur, von weiblicher Selbstermächtigung und beschreibt zugleich den Zerfall des englischen Empires. 35 Jahre nach seinem Erscheinen ist der Roman nun auch auf deutsch übersetzt, entfaltet seinen federleichten Zauber.

Novelle

Wenn das nicht in die Zeit passt! Mit Don DeLillo entwirft ein großer alter Mann der US-Literatur (unsterblich: „Unterwelt“) in einem der dünnen Büchlein, die er immer wieder nutzt, um hellsichtige Szenarien in die Zeitläufte zu entwerfen: den Zusammenbruch. Man mag natürlich an Corona denken oder auch die Wahlen denken – beim 83-jährigen New Yorker ist es zunächst ein technischer Zusammenbruch, der ein Ehepaar im Flugzeug und ein anderes beim Schauen des Super Bowl trifft und Die Stille auslöst (übs. Frank Herbert, Kiepenheuer & Witsch, 112 S., 20 ¤) . Ein symbolischer Showdown oder eine konkrete Terror-Ahnung? Fein gezeichnet jedenfalls, wie immer.

Science Fiction & Fantasy

Einfach die Flügel aufspannen und davonfliegen – das kann man sich ja schon mal wünschen in diesen Zeiten. Wer liest, ist da klar im Vorteil. Denn mit Büchern geht das, zum Beispiel bei dem gebürtigen Ulmer Andreas Eschbach , ohnehin einem der Großen der Science-Fiction. Eines Menschen Flügel (Lübbe, 1264 S., 26 ¤) heißt sein aktuelles Großwerk, das allerdings deutlich in den Bereich Fantasy gehört: Unsere beflügelten Nachfahren leben in den Bäumen, weil auf dem Boden das Verderben lauert, und ein Himmelsstürmer bringt mit seinen Traum, die sagenumwobenen Sterne zu sehen, alles in Gefahr. Ein märchenhaftes Leseabenteuer – auch prächtig zum Vorlesen(lassen).

Comedy

Es muss auch hier gesagt sein, selbst wenn das ohnehin Bestseller-Stoff ist: Marc-Uwe Kling ist auch abseits seiner kultigen „Känguru-Chroniken“ eine Wucht als Romanautor. Das ist nun auch in der Fortsetzung seiner Science-Fiction-Thriller-Komödie zu erleben, denn Qualityland 2.0 (Ullstein, 432 S., 19 ¤) ist nicht nur herrlicher Quatsch, sondern auch ein kluges historisches Anspielungs- und aktuelles Abrechnungsfeuerwerk – samt Drittem Weltkrieg und Klimakollaps. Übrigens besser mit, aber auch ohne Kenntnis von Teil eins lesbar.

Krimi & Thriller

An der Bestseller-Spitze der vergangenen Wochen: zuerst der neue Kluftinger von Klüpfel/Kobr, dann der neue Fitzek. Das Verbrechen herrscht in ganzer Bandbreite, von launigem Krimi bis blutigem Thriller – da übersieht man gern das Leise, Feine. Wie Hideo Yokoyama . Der Japaner schreibt mit seinen Fällen eher eindrückliche Porträts der japanischen Gesellschaft. Und 50(übs. Nora Bartels, Atrium, 352 S., 22 ¤ ), stellt zudem noch einfühlsam die Frage nach Würde und Wert des Menschenlebens – als Teil der Gesellschaft generell und konkret mit fortschreitendem Alzheimer.

Essay

Seit dem Frühjahr dieses Jahres gibt es eine neue literarische Gattung, das schnell verfasste Corona-Buch, wobei auch da natürlich unterschieden werden muss: zwischen Corona-Tagebuch, Corona-Sachbuch oder dem Corona-Roman, zum Beispiel ,wunderbar schräg, Die Krone der Schöpfung (Matthes & Seitz, 214 S., 18 ¤) von Lola Randl , zusammengefügt aus kleinen Essays und Betrachtungen über die neue Corona-Normalität auf dem Lande. Die Hauptfigur, eine Drehbuchschreiberin, sitzt mitten im Irrsinn am Script für eine Zombie-Serie, schult nebenbei die Kinder … Was ebenfalls zur Gattung zählt: das Corona-Essay. Von Zadie Smith sind nun als E-Book ihre Betrachtungen erschienen (übs. Tanja Handels, Kiepenheuer &Witsch, 80. S., 7,99¤), in denen die englische Starautorin zum Beispiel ihren fieberhaften Drang zum Beschäftigtsein reflektiert. Da stellt sich ein ausnehmend kluger Mensch Fragen zur neuen Realität und lässt am Nachdenken teilhaben.

Politik & Wirtschaft

Seit Jahren gibt es Abgesänge auf den Kapitalismus mit den verheerenden Auswirkungen des ihm innewohnenden Wachstumsprinzips auf Gesellschaft und Umwelt – zum einen. Und zu anderen immer wieder „tina“ – „there is no alternative“ – heißt es, also er sei alternativlos. Der renommierte serbisch-amerikanische Ökonom Branko Milanovic leistet in Kapitalismus global (übs. Stephan Gebauer, Suhrkamp, 404 S., 26 ¤ ) gleich zweierlei Spannendes: Er zeigt, wie diese Wirtschaftsform die ganze Welt beherrscht wie keine vor ihr, und weist einen Weg für die Zukunft eines gesünderen Kapitalismus. Gute Lektüre in Lockdown-Zeiten – oder soll es nach Corona weitergehen wie zuvor?

Autobiografie & Geschichte

Jonathan Safran Foer ist ein Star der Literatur, seit er mit dem dann auch Hollywood-verfilmten „Alles ist erleuchtet“ die Suche nach seinen jüdischen Wurzeln zum Romanrahmen gemacht hat – und dann auch durch persönliche Essays wie „Tiere essen“. Jetzt hat auch seine Mutter, Esther Safran Foer , ein Buch geschrieben, das im Grunde beides vereint. Ihr sollt wissen, dass wir noch da sind (übs. Tobias Schnettler, Kiepenheuer & Witsch, 288 S., 22 Euro) erzählt nun wirklich und persönlich von der Suche nach der Familiengeschichte und zeigt dabei auch eine Haltung für den Umgang mit der Vergangenheit. Der Ton ist völlig unliterarisch, das aufrichtige Suchen (und schließlich tatsächliche Finden) von verschütteten Schicksalen unmittelbar bewegend.

Philosophie & Gesellschaft

Ohne Probleme konnte er da auch noch ein Kapitel über Corona einfügen. Denn der deutsche Philosoph Markus Gabriel schreibt in seinem neuesten Buch ja darüber, dass sich gerade in Krisen zeigt, worum es beim Menschsein geht und gehen muss. Denn Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten (Ullstein, 368 S., 22 ¤) ist nicht nur ein Aufruf zu einer neuen Aufklärung, sondern auch philosophisches Seminar. Gabriel zeigt, dass Moral keine Frage von persönlichen Standpunkten oder historischen Perspektiven ist, sondern dass es faktisch Prinzipien des Menschseins gibt, an denen wir uns orientieren sollten. Gerade jetzt.
Von Wolfgang Schütz und Stefanie Wirsching

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