Das massive Engagement vor allem von Tinas Klassenkameraden konnte die Abschiebung nicht verhindern. „Deine Rede bringt uns gar nichts mehr, aber trotzdem danke“, schrieb die 20-jährige Sona an van der Bellen. Auch sie und ihr Bruder mussten in jener Nacht Österreich verlassen. Der zu spät gekommene Appell des Bundespräsidenten an die Regierung zeugt eher von Realitätsverweigerung – und verhallt ungehört. Unbeirrt zieht die konservative ÖVP von Kanzler Sebastian Kurz ihren populistischen Kurs durch: Bei den Abschiebungen geht es ihr, genau wie bei der Weigerung, Flüchtlinge aus dem Desaster-Lager Moria aufzunehmen, um Signalwirkung.
Der zuständige Innenmister Karl Nehammer beruft sich darauf, dass die Verfahren bis in die letzte Instanz ausgefochten worden waren. Auch ein humanitäres Bleiberecht habe das Bundesverwaltungsgericht nicht zugestanden, und zudem sei die Mutter der Abgeschobenen selbst schuld, schließlich habe diese immer wieder „aussichtslose Asylanträge“ gestellt und so die Situation herbeigeführt. Zahlreiche Juristen widersprechen der Darstellung des ÖVP-Politikers, verweisen auf Kinderschutzrechte und die Tatsache, dass das Innenministerium jederzeit aus Verhältnismäßigkeitsgründen auf eine Abschiebung hätte verzichten können. Tatsächlich genehmigt das Höchstgericht lediglich die Abschiebung, die das Innenministerium veranlasst. Die Debatte darüber, ob es denn nicht doch rechtlichen Spielraum gegeben hätte oder ob das dann einer „Daumen-Hoch-Daumen-runter-Beugung“ des Rechtsstaats entsprochen hätte, wie ÖVP-nahe Medien argumentieren, ist nur oberflächlich relevant. Es geht um den politischen Willen der ÖVP zum Populismus.
Die Kurz-Partei weiß: Fast die Hälfte der Österreicher folgen ihr in ihrer Linie beispielsweise bei Moria. Das zeigen Umfragen, nicht nur solche, die die ÖVP regelmäßig durchführen lässt, um ihren Kurs abzutesten. Nur eine Minderheit von knapp 20 Prozent will Flüchtlinge aufnehmen. Wer diese Grundstimmung und auch die Asylpraxis in Österreich verstehen will, muss in die Vergangenheit blicken. Denn Kurz macht sich im Kern eine Stimmung zunutze, die andere lange vor ihm aufbereitet hatten. Seit den frühen 90er Jahren wurde das politische Klima gegenüber Geflüchteten und Migranten sukzessive vergiftet, dazu trugen die österreichischen Boulevardzeitungen genauso bei wie ein gewisser Jörg Haider. Er war es auch, der mit seiner rechtspopulistischen FPÖ und deren stetig zunehmenden Erfolgen in den 90ern die damals regierende Große Koalition aus SPÖ und ÖVP mit dem Migrations- und Asylthema vor sich hertrieb.
Der gesetzliche Schutz von Personen, die „von klein auf“ in Österreich leben, wurde über die Jahre ausgehöhlt. Endgültig streichen ließ die entsprechende Passage im Fremdenrecht schließlich 2018 der damalige FPÖ-Innenminister Herbert Kickl. In den Jahren zuvor hatten sowohl dessen Partei wie auch der zum großen Sprung ansetzende Sebastian Kurz darum gewetteifert, wer die nach dem „Jahr der offenen Grenzen“ 2015 gekippte Stimmung in Österreich am besten in Wählerstimmen ummünzen konnte. Und als sich die FPÖ mit der „Ibiza-Affäre“ selbst in die Luft sprengte, ermöglichte dies Kurz, zigtausende ihrer Wähler an sich zu binden: Der rechtspopulistische Kurs seiner Partei ist seither einzementiert. „Seine“ FPÖ-Wähler will der Kanzler nun um jeden Preis halten.
Die Grünen, mit denen er inzwischen regiert, bekommen die Wut jener ab, die die Abschiebung von in Österreich aufgewachsenen Jugendlichen nicht verstehen können, am heftigsten zu spüren. „Mein Gott, wir sind in der Regierung, um einen Beitrag dazu zu leisten, dass die Dinge besser werden. Das gelingt an vielen Tagen, an manchen leider nicht. Gestern war so ein Tag“, kommentierte der grüne Gesundheitsminister Rudolf Anschober, der noch im Wahlkampf mit seiner Kampagne „Ausbildung statt Abschiebung“ große Erfolg erzielt hatte. Härtefallkommissionen oder die Mitsprache von Landeshauptleuten, wie es sie in der Vergangenheit gegeben hatte und sie die Grünen nun wieder fordern, werde es mit der ÖVP sicher nicht geben, heißt es von dort prompt.
Die Grünen könnten natürlich im Ministerrat, von dem der Großteil der Gesetzesinitiativen ausgeht, auf ein „Gegengeschäft“ zwischen der für sie so wichtigen Asyl- und Migrationsmaterie mit einem für die ÖVP wichtigen Thema setzen. Wäre da nicht eine Klausel im Regierungsprogramm, die es der Kurz-Partei ermöglicht, beim Fehlen eines koalitionsinternen Konsenses eine Mehrheit im Parlament mithilfe anderer Parteien zu suchen. Es ist dieser Blankoscheck, der die Grünen de facto handlungsunfähig macht, in der Koalition mit Kurz.
Verzweifelte Aufforderungen, wie jene des Vorarlberger Grünen-Chefs Johannes Rauch, die ÖVP möge den Juniorpartner „aus staatspolitischer Räson“ nicht dazu zwingen, die Koalition zu verlassen, sind die Ausnahme. Rauch selbst gab implizit die neue Sprachregelung der Grünen vor: Mitten in einer Pandemie“ mit all ihren Folgen wirklich auf stur zu schalten, sei „verantwortungslos“. Von Werner Reisinger