Hannover/München Für die evangelische Kirche, vor allem aber für die Missbrauchsopfer in ihren Reihen, bedeutete der Beschluss vom November 2018 den Durchbruch. Damals hatte die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) in Würzburg einen „11-Punkte-Handlungsplan“ auf den Weg gebracht und damit ihre Maßnahmen zur Aufarbeitung und Prävention von Missbrauchsfällen deutlich ausgeweitet. Seit Dienstag ist sie wieder einen Schritt weiter. In Hannover wurde der „Beauftragtenrat der EKD zum Schutz vor sexualisierter Gewalt“ – ein fünfköpfiges Gremium aus Landesbischöfen und Oberkirchenräten – konkreter: Vom 1. Juli an können sich Betroffene an die unabhängige „Zentrale Anlaufstelle.help“ wenden – unter der kostenlosen Nummer 0800/5040 112 oder unter www.anlaufstelle.help. Zudem sollen wissenschaftliche Studien das gesamte Ausmaß des Missbrauchs zutage fördern. Derzeit werde an der Ausschreibung gearbeitet.
Die katholische Kirche hatte bereits Ende September 2018 die „MHG-Studie“ vorgestellt, der zufolge bundesweit 1670 katholische Geistliche beschuldigt werden, zwischen 1946 und 2014 insgesamt 3677 Kinder missbraucht zu haben. In der evangelischen Kirche soll es nun auch regionale Untersuchungen geben sowie eine Dunkelfeldstudie. Mit ihr soll die Dunkelziffer der Fälle ermittelt werden. Bislang sind insgesamt rund 600 bekannt, zwei Drittel davon betreffen ehemalige Heimkinder. Die Zahl beruht auf einer Erhebung in allen 20 selbstständigen Landeskirchen, also auch der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (ELKB). Deren Sprecher Michael Mädler sagte am Mittwoch auf Anfrage, dass sich unter den rund 600 Fällen 28 Fälle „strafrechtlich relevanter sexualisierter Gewalt“ aus dem Bereich der ELKB befinden. Sie seien verjährt und zählen, so Mädler, zu jenen circa hundert „Vorkommnissen“, die seit Bestehen einer Ansprechstelle für Betroffene von sexualisierter Gewalt der ELKB – seit 2008 also – dort gemeldet worden seien.
Kurz vor dem Deutschen Evangelischen Kirchentag, der am 19. Juni in Dortmund beginnt und zu dem über 100 000 Besucher erwartet werden, hat die EKD mit ihren Maßnahmen ein Zeichen gesetzt. Aus Opfersicht aber ein längst Überfälliges. „Die EKD und die Landeskirchen stehen noch ganz in den Anfängen der Aufarbeitung“, kritisierte Kerstin Claus, die als Jugendliche jahrelang von einem niederbayerischen evangelischen Pfarrer missbraucht wurde. Zwischen 2010 und 2018 sei „einiges verschlafen“ worden. Dass der Missbrauch Minderjähriger in der evangelischen Kirche ein großes Problem darstellt – und nicht nur in der katholischen – lässt nach Ansicht von Experten auf „strukturelle Ursachen“ schließen. Als solche gilt etwa der Missbrauch von Macht.